Ein 17-Jähriger wird umdatiert und ist plötzlich 19 – mit gravierenden Konsequenzen: Der junge Mann fliegt aus der Jugendhilfe, hat keinen Anspruch mehr auf einen Dolmetscher in der Therapie und wird aus seinem vertrauten Umfeld herausgerissen.
Ein Beispiel, wenn Strukturen kontrainzidiert arbeiten. Und ein Appell: Wir müssen den Menschen sehen!
Heimat- und Haltlos
Als der junge Mann zum Erstgespräch kommt, ist er nicht allein: Seine Betreuerin begleitet ihn. Sie ist eine wichtige Stützte für den Unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlinge (umF), der bereits als kleines Kind erste Fluchterfahrungen machen musste.
Vor dem Krieg in seinem Heimatland flohen die Eltern in einen Nachbarstaat. Hier wurde die Familie jedoch niemals anerkannt, sondern erlebte im Gegenteil brutale Anfeindungen. Um den Sohn eine bessere Zukunft zu ermöglichen, beschließen die Eltern deshalb, ihn weiter zu schicken. Mit 13 Jahren wird er von seinen Eltern getrennt und es beginnt eine jahrelange Flucht, die ihn schließlich nach Deutschland führt.
Im Gespräch klagt er über Schlafstörungen. Er hat furchtbare Angst um seine Familie und träumt immer wieder vom Tod seines Vaters. Die erfahrene Feindseligkeit und die frühe Trennung von den Eltern haben den jungen Mann offensichtlich stark angegriffen. Auf seiner Flucht macht der 13-Jährige außerdem traumatisierende Erfahrungen. Er erlebt immer wieder Brüche. Heute fällt es ihm deshalb offensichtlich schwer, Vertrauen aufzubauen.
In der Therapie wird eine posttraumatische Belastungsstörungen diagnostiziert und mittelgradig depressive Episoden.
Lichtblick
Als er in Deutschland ankommt, wird er zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft für Erwachsene untergebracht. Dies empfindet er als hochbelastend und überfordernd. Ihm wird schließlich der Umzug in eine Jugendeinrichtung ermöglicht.
Hier kommt er zum ersten Mal an: Bereits im Erstgespräch wird die gute Beziehung zur Betreuerin deutlich, die ihn unterstützt und Halt gibt. Die Wohngruppe ist für ihn ein sicherer Ort. Die schützenden und versorgenden Elemente ermöglichen ihm, zu Atem zu kommen. Er beginnt, sich mit seinen traumatischen Erfahrungen, der mehrjährigen Flucht sowie den Erfahrungen im Heimatland auseinander zu setzen.
Altersschätzung
Viele Geflüchtete kommen ohne gültige Identitäts- oder Passdokumente: Die Papiere sind entweder auf der Flucht verloren gegangen, oder aber wurden einbehalten. Auch der junge Mann hat kein Dokument, das sein Alter belegt, deshalb muss geschätzt werden. Sein Geburtsjahr wird datiert – und dann plötzlich geändert. Er ist zunächst 17 Jahre alt – und wird auf einen Schlag 19. Mit gravierenden Folgen: Auf dem Papier ist er jetzt kein Kind mehr. Damit verliert er sein Recht auf eine kindeswohlgerechte Unterbringung, engmaschige Unterstützung durch eine*n Sozialbetreuer*in, rechtliche Vertretung und den Anspruch auf eine*n Dolmetscher*in.
Der junge Mann steht nun wieder vor einem Umbruch: Er muss aus seiner Wohngruppe ausziehen, er verliert sein vertraut-gewordenes Umfeld und den Schutz, der ihm als umF zusteht. Er verliert seine Betreuerin und seinen Dolmetscher, Bezugspersonen, zu denen er Vertrauen gefasst hat. Auch die Therapiestunden sind gefährdet, denn ohne einen Dolmetscher sind diese nicht länger möglich. Er reagiert heftig auf die bevorstehenden Umbrüche und zeigt starke somatische Reaktionen. In der Therapiestunde erbricht er.
Grenzen des Systems
Die statische Grenze zwischen Kind und Erwachsen-Sein, zwischen gesund und krank, hilfsbedürftig und selbstständig kann diesem Menschen nicht gerecht werden: Der junge Mann steht auf der Schwelle zum Erwachsenen-Sein, aber er ist – insbesondere durch seine traumatischen Erfahrungen – nach wie vor besonders schutzbedürftig. Ein Auszug und der Verlust seiner Bezugspersonen ist (re-)traumatisierend für ihn.
Die gemeinnützige GmbH Über Grenzen will diese Grenzen überwinden. Wir sammeln Spendengelder, um dem jungen Menschen eine*n Dolmetscher*in zu bezahlen, damit er weiter therapeutisch angebunden sein kann.
Weitere wichtige Bausteine, für die wir uns einsetzen, sind:
- Aufrechterhaltung der Jugendhilfemaßnahmen
- Die Möglichkeit, in der Wohngruppe zu bleiben